Nun ist die neue italienische Regierungskoalition aus Cinque Stelle und Lega nach diversen Querelen doch ins Amt gekommen. Die Politiker in Brüssel und Berlin sind aufgeschreckt und versuchten Mithilfe des italienischen Staatspräsidenten Matarella die Regierungsübernahme zu stoppen, gaben aber dann ihr Vorhaben auf, weil die Umfragewerte der Koalitionspartner weiter nach oben zeigten.
Wir versuchen zu klären, warum die italienischen Wähler so entschieden haben und untersuchen die ökonomischen Überlegungen der neuen Regierung, die im Kontrast zur bisherigen Wirtschaftspolitik, die von Brüssel und sicher auch von Berlin nahegelegt wurde, zu qualifizieren.
Zunächst ist es offensichtlich, dass Italien seit fast 10 Jahren eisern spart, einen Primärüberschuss (staatliche Einnahmen minus Ausgaben ohne Zinsen) erzielt, die EWU Kriterien von weniger als 3% Neuverschuldung seit Jahren einhält. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen kommt Italien nicht auf die Füße, die Staatsverschuldung weitet sich aus und die Arbeitslosigkeit steigt gerade unter Jugendlichen.
Europa setzt auch im Falle Italien auf harte Ersparnis und glaubt so die Konsolidierung der Staatsfinanzen erreichen zu können und damit Vertrauen in die Wirtschaft zurückzubringen. Dieses Vertrauen bringe dann die notwendigen Investitionen der Privatwirtschaft hervor, so die Hoffnung.
Dahinter steckt ein Konzept des amerikanischen Harvard Ökonomen Alberto Alesina, welches als „expansive Fiskalkontraktion“ bezeichnet wird. Verstärkt wurde der Glaube an dieses Konzept mit den Forschungsarbeiten von Rogoff/Reinhart (Harvard), welche zu dem Schluss kamen, dass Staatsverschuldung größer 90% stets zu Wachstumsnachteilen führe. Der damalige deutsche Finanzminister Schäuble führte dies beständig in seinem Argumentarium zur Notwendigkeit des Sparens.
Der Internationale Währungsfonds IWF vertrat lange ähnliche Überzeugungen, wies aber ebenso wie die OECD in zahlreichen Untersuchungen nach, dass die genannten Ökonomen diverse statistische Fehler begangen hatten und zudem Korrelationen und Kausalitäten nicht ausreichend differenziert hatten. Insbesondere hielt das Konzept der Realität nicht stand, denn je mehr die Länder sparten, desto höher stiegen die Schuldenquoten und die Arbeitslosigkeit und desto stärker sank das BIP.
Obwohl Europa dieses fehlerhafte Konzept nach 2012 nicht mehr ganz so streng verfolgte, so hat sich die ökonomische Grundausrichtung trotz der klaren empirischen Belege gegen diese Wirtschaftspolitik nicht geändert.
Fehlgeleitete Wirtschaftspolitik in der EU
Warum ist die Politik der EWU kontraproduktiv? Nun zunächst erscheint die Wortschöpfung „expansive Fiskalkontraktion“ nicht unbedingt plausibel, denn eine Kontraktion wirkt natürlich kontraktiv. Wichtiger ist es aber die Wirkungen diverser fiskalischer Impulse (öff. Konsum, öff. Investition, steuerliche Maßnahmen sowie Transferleistungen) in unterschiedlichen Wirtschaftszyklen (Aufschwung, Abschwung, Normal) zu verstehen.
Derartige Maßnahmen wirken in der Gesamtwirtschaft über den sogenannten Multiplikatoreffekt. Dieser besagt, dass bei einem Multiplikator von 1 eine Senkung/Erhöhung der Staatsausgaben um 1 Mrd. € eine Senkung/Erhöhung des Sozialprodukts ebenfalls um 1 Mrd. € bewirkt. Im Jahr 2014 haben die österreichischen Ökonomen Rannenberg und Gechert 98 empirische Untersuchungen zu den Wirkungen fiskalischer Maßnahmen analysiert und kommen zu den nachfolgend aufgezeigten Resultaten.
Während die Brüsseler Politiker und deren Ökonomen grundsätzlich von einem Multiplikator von 0,5 ausgehen (was im Aufschwung zumeist und in Normalphasen überwiegend gültig ist), liegen diese gerade in der Abschwungphase idR nahe oder gar über 2%. Für Italien gilt ein Multiplikator von aktuell ca. 1,7. Wie erwähnt hat das Land massive Sparanstrengungen unternommen und erzielt einen Primärüberschuss von 1,5%. Jedoch sinkt in dieser Situation das Sozialprodukt um 2,55%, was bedeutet, dass die Sparanstrengung kontraproduktiv ist und die Schuldenquote nicht gesenkt, sondern erhöht wird.
Der britische Wirtschaftshistoriker Robert Skidelsky folgert daraus konsequent: „Unter diesen Umständen ist Sparen genau das falsche Rezept. Eine Regierung kann ihr Defizit nicht beseitigen, wenn ihre Einnahmequelle, das Volkseinkommen, schrumpft. Es ist nicht die Verschuldung, die verschwenderisch ist, sondern der Defizitabbau. Denn er impliziert die Verschwendung von vorhandenem menschlichen und physischen Kapital – von dem dadurch bedingten Elend ganz abgesehen.“
Cinque Stelle und Lega – Chaos oder Ausweg
Von der Politik wie auch von den Leitmedien sind die neuen Machthaber nicht gerade euphorisch begrüßt worden. Werden sie das befürchtete Chaos anrichten oder haben deren Ideen doch Lösungsmöglichkeiten vor Augen. Wenn sie einen anderen Weg gehen, als der bisher von Brüssel und Berlin vorgegebene, dann hängt das damit zusammen, dass die bisherige Medizin offensichtlich die Schmerzen nicht gelindert, sondern sukzessive verstärkt hat. Das gilt übrigens für Südeuropa insgesamt, nicht nur für Italien. Dies haben die Wähler eindeutig zum Ausdruck gebracht und wenn Politiker meinen die Leute sollten so entscheiden, wie die Märkte das für richtig halten, dann scheint das Demokratieverständnis doch stark angeschlagen zu sein.
Insbesondere stellt sich die Lega gegen die Bedingungen der von Deutschland dominierten Währungsunion, die Italien keine Entfaltungsmöglichkeit lasse. In die gleiche Kerbe schlägt US-Ökonom Nouriel Roubini, wenn er feststellt: „Die langfristigen Kosten, die damit verbunden sind in einem Club zu bleiben, der von inhärent deflationären, von Deutschland diktierten Regeln dominiert wird, könnten die Italiener zum Austritt aus der Währungsunion verleiten.“
Dieses Szenario spielten zunächst auch die Märkte, welche die Zinsen italienischer Anleihen im Mai kräftig ansteigen ließen, wobei die EZB noch mehr Öl ins Feuer goss, als man den Ankauf italienischer und südeuropäischer Anleihen zusätzlich reduzierte. Derartige Maßnahmen erinnern an die Erpressung der Griechen im Sommer 2015.
Warum haben sich die Italiener dafür entschieden, die lange herrschenden Parteien davonzujagen. Nun in Italien ist in den letzten Jahren einiges schiefgelaufen und vorstehende Grafik deutet an, warum das Land, neben anderen Südeuropäern, kleptokratische Züge angenommen hat. So erhalten in Italien die 20% Reichsten im Lande mehr als das viereinhalbfache an staatlichen Transferleistungen, als man den 20% der Ärmsten ausbezahlt. Europäische Politiker und Medienschaffende, die ihre „Blase“ nicht verlassen, werden eben gelegentlich von der Realität überrascht. Immerhin ist in der neuen Regierung erstmals seit 1994 kein Mitglied vorbestraft.
Wirtschaftspolitische Pläne
Zunächst plant man das Bankensystem wieder zurückzuführen auf seine eigentlichen Aufgaben, nämlich die Kreditversorgung der Bürger und Unternehmen. Geplant wird die Einführung eines Trennbankensystems. Das italienische KfW-Pendant „Casa Depositi e Prestiti“ soll gestärkt werden, um wieder mehr aktive Industriepolitik betreiben zu können. Die Banken sollen getrennt werden in Investment- und Privatbanken. Oberste Priorität ist die Rückgewinnung des Vertrauens der Sparer. Aus diesem Grunde möchte man auch die Skandalbank „Monte dei Paschi“ weitgehend in öffentlicher Hand behalten.
Man plant zudem die Einführung einer fiskalischen Nebenwährung, um unabhängiger von der Last des Euros zu sein. Man darf gespannt sein wie die EZB darauf reagiert.
Hinsichtlich der geplanten Fiskalpolitik dürfte ein heftiger Zusammenstoß mit den europäischen Regelhütern zu erwarten sein, will man sich doch dem Fiskalpakt entgegenstellen. Ich hatte hier bereits erläutert, dass dieser europäische Fiskalpakt das Problem für die Währungsunion ist und nicht die Lösung. Wer dafür eine Antenne hat, spürt dies eigentlich täglich ein wenig mehr in ganz Europa.
Die Vorhaben werden sicher Geld kosten, soweit dieses Geld aber in staatliche und industrielle Investitionen gelenkt wird, also der darbende italienische Kapitalstock gestärkt wird, ist ein positiver Beitrag für Wachstum und Arbeitsmarkt zu erwarten. Die Befürchtungen, dass sich die Schuldenquote hierdurch erhöht, sind beim italienischen Multiplikator von ca. 1,7 unbegründet. Vielmehr ergibt sich daraus eine Reduzierung der Quote. Insoweit liegt die neue Regierung gesamtwirtschaflich weitgehend richtig. Anstatt Italien dafür zu kritisieren, dass es die europäischen Regeln nicht einhalten will, sollten vielmehr die Sinnhaftigkeit dieser Regeln und der europäische Fiskalpakt dringend hinterfragt werden.
Auch das Vorhaben zur Einführung eines Mindestlohnes ist zu begrüßen, denn dessen erhebliche Nachfrageeffekte werden Investitionen viel eher anregen, als sog. Strukturreformen. Unternehmer investieren insbesondere dann, wenn sie glauben ihre Produkte auch verkaufen zu können und nicht in erster Linie, wenn Zinsen und Steuern niedrig sind. Ähnliche Wirkungen wie der Mindestlohn dürfte ein Bürgereinkommen zeitigen, geplant sind 780 € monatlich. Diese Maßnahme ist der Cinque Stelle sehr wichtig, da sie ihre verarmten Wähler in Süditalien unterstützen möchte. Nach den oben aufgeführten Multiplikatoren wirken Transferzahlungen im Abschwung besonders positiv. Flankiert werden die Maßnahmen zur Stärkung der Massenkaufkraft noch durch die Ablehnung der von der Vorgängerregierung geplanten Erhöhung der Mehrwertsteuersätze, die vornehmlich die breite Bevölkerung treffen würde.
Der Lega wiederum, die zahlreiche Anhänger im Mittelstand hat, ist die Einführung einer Flat-Tax besonders wichtig. Bei dieser radikalen Steuerreform sind nur zwei Steuersätze, nämlich 15 und 20% geplant, die sowohl für Privatpersonen wie für Unternehmen gelten sollen. Niedrigeinkommensbezieher zahlen keine Steuer. Die bisherigen Höchststeuersätze betragen für Firmen 24% und für Personen maximal 43%.
Das ganze Paket wird sehr hohe staatliche Kosten verursachen, welche die Verschuldungsquote erstmal nach oben schieben dürfte. Allerdings werden durch die hohen Multiplikatoren bei Transferzahlungen und öffentlichen Investitionen diese Quoten in sog. Zweitrundeneffekten wieder deutlich sinken und zur Reduktion der Schuldenquoten beitragen. Negativ ist aus gesamtwirtschaftlicher Sicht die Flat-Tax zu bewerten, denn die Effekte dieser Maßnahme wird beim Schuldenabbau eher hinderlich sein.
Und es ist nunmal ein ökonomisches Grundgesetz, dass Wachstum nur über zusätzliches Geld, also einer Kreditfinanzierung möglich ist. Das ist in Deutschland ganz genauso, nur lassen wir unsere „schwarze Null“ nicht vom Inland, sondern von den Ausländern, die uns jährlich 300 Mrd. € an Kreditmitteln zur Verfügung stellen, finanzieren. Jeder der bis drei zählen kann muss wissen, dass diese Form der Finanzierung endlich ist. Je früher wir Deutschen das einsehen, umso besser für Europa.
Nicht alle Vorhaben, aber doch das ökonomische Gesampaket der neuen italienischen Regierung werden helfen Italien aus der Erstarrung zu holen. Doch zu lösen ist das italienische und auch das europäische Problem nur, wenn Deutschland von seinem hohen Ross seiner neomerkantilistischen Politik heruntersteigt. Hierzulande sind insbesondere dringend höhere Löhne anzustreben, um die Binnenwirtschaft anzukurbeln und damit die Exportabhängigkeit zu reduzieren.
Den der deutsche Lohnkostenvorteil von immer noch 15-20% gegenüber der Eurozone und speziell Italien, der in den Nuller Jahren aufgebaut wurde, wirkt zerstörerisch in einer Währungsunion. Die Differenz muss eingeschmolzen werden, um den Euro überlebensfähig zu halten. Eine Anpassung an Deutschland nach unten, wie es Macron für Frankreich anstrebt, ist abzulehen. Denn dies würde erneut ein deflationäres „Race to the bottom“ für Gesamteuropa zeitigen.